Der EuGH meldet: „Ein früherer Wanderarbeitnehmer und seine Kinder, denen ein Aufenthaltsrecht aufgrund des Schulbesuchs der Kinder zusteht, können nicht mit der Begründung, dass dieser Arbeitnehmer arbeitslos geworden ist, automatisch von nach dem nationalen Recht vorgesehenen Leistungen der sozialen Grundsicherung ausgeschlossen werden“ EuGH, Urteil vom 6.10.2020 in der Rechtssache C-181/19. Der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit c) SGB II ist europarechtswidrig und somit unanwendbar.
Zum Hintergrund (von Claudius Voigt, Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e. V.):
Nach Art. 10 VO 492/2011 haben die Kinder einer Unionsbürgerin, die in Deutschland beschäftigt ist oder früher beschäftigt gewesen ist, das Recht, „unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teil(zu)nehmen.“ Dies gilt auch dann, wenn der Elternteil die Arbeitnehmerinneneigenschaft mittlerweile verloren hat (etwa weil ersie länger als sechs Monate arbeitslos war oder die Arbeit nicht „unfreiwillig“ aufgegeben hat). Aus diesem „Schulbesuchsrecht“ der Kinder ergibt sich nach der Rechtsprechung des EuGH zwingend auch ein eigenständiges Recht auf Aufenthalt, das unabhängig von einem gesicherten Lebensunterhalt besteht (EuGH, C‑310/08, Ibrahim sowie EuGH, C‑480/08, Teixeira). Dieses Aufenthaltsrecht überträgt sich nach der Rechtsprechung des EuGH auch auf den Elternteil (oder beide Elternteile), „der die elterliche Sorge für dieses Kind tatsächlich wahrnimmt“.
Seit Dezember 2016 hat der Bundestag diese Personengruppe jedoch ausdrücklich von einem Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII ausgeschlossen (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2c) SGB II bzw. § 23 Abs. 3 Nr. 3 SGB XII). Diese Leistungsausschlüsse widersprechen nach dem heutigen Urteil jedoch den Gleichbehandlungsgeboten aus Art.7 Abs.2 der Verordnung 492/2011 sowie aus Art. der Verordnung 883/2004. Die Leistungsausschlüsse sind damit unanwendbar, da das Europarecht vorrangig ist. Die Jobcenter müssen daher nun Leistungen bewilligen, obwohl im Gesetz etwas anderes steht.
Der EuGH hat dabei überzeugend aus Sicht der betroffenen Kinder argumentiert: „Diese Auslegung verhindert somit, dass eine Person, die beabsichtigt, gemeinsam mit ihrer Familie ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten, dem Risiko ausgesetzt ist, bei Verlust ihrer Beschäftigung den Schulbesuch ihrer Kinder unterbrechen und in ihr Herkunftsland zurückkehren zu müssen, weil sie nicht die nach den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Sozialleistungen in Anspruch nehmen kann, die den Lebensunterhalt der Familie in diesem Mitgliedstaat sicherstellen würden.“ (aus der Pressemitteilung)
Ein Beispiel:
Frau H. ist Unionsbürgerin und hat für acht Monate in einer Teilzeitstelle gearbeitet. Sie ist betriebsbedingt gekündigt worden und sucht nun seit mehr als sechs Monaten eine neue Arbeit. Ihr Partner ist Drittstaatsangehöriger und arbeitet nicht. Beide sind nicht verheiratet und haben ein gemeinsames Kind, das die zweite Klasse der Grundschule besucht. Das Jobcenter hat nun die Leistungen eingestellt, da die Frau nach sechs Monaten den Arbeitnehmerinnen-Status verloren habe.
Nach dem Urteil des EuGH ist nun klar, dass das rechtswidrig ist: Die gesamte Familie hat einen Anspruch auf Leistungen nach SGB II, weil das Kind über ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 492/2011 verfügt. Dies gilt auch für die Eltern, die die Sorge für das Kind tatsächlich ausüben. Der Leistungsausschluss ist nicht mehr anwendbar.
Das Urteil im Wortlaut gibt es hier: http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=232081&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=5924081