PM Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM):
Bürger*innen aus Ländern der Europäischen Union, die in Deutschland leben, haben Anspruch auf Sozialleistungen. In der Praxis stoßen sie jedoch häufig auf Hürden und können ihre Ansprüche deshalb nicht geltend machen. Woran liegt das? Und wie lassen sich diese Hürden abbauen? Das hat die Sozialwissenschaftlerin Dr. Nora Ratzmann untersucht. Ihre Ergebnisse veröffentlicht das DeZIM-Institut jetzt in einer Research Note.
EU-Bürger*innen stellen eine der größten Gruppen von Zuwander*innen in Deutschland. Nach dem EU-Freizügigkeitsgesetz können sie hierzulande unter genau definierten Voraussetzungen Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld I oder grundsichernde Leistungen, das so genannte Arbeitslosengeld II, beantragen. Ausländischen Antragsteller*innen, die ihre Rechte nicht kennen, kein Deutsch können und denen die Feinheiten der deutschen Bürokratie fremd sind, fällt es schwer, diese Ansprüche geltend zu machen. Das zeigt eine Studie von Dr. Nora Ratzmann zum Bezug von Arbeitslosengeld II. Sie hat dazu Betroffene interviewt, die seit 2004 aus einem anderen EU-Land nach Deutschland gezogen waren, sowie Mitarbeitende von Jobcentern und Sozialberatungsstellen.
„In den Fällen, die ich untersucht habe, konnten nur diejenigen Antragsteller*innen ihre Ansprüche erfolgreich geltend machen, die über ihre Rechte und Pflichten sehr genau informiert und mit der deutschen Sprache einigermaßen vertraut waren, bevor sie an ihr örtliches Jobcenter herantraten“, sagt Dr. Nora Ratzmann. „Wer dagegen erst um weitere Informationen bitten musste oder nicht in der Lage war, seinen bzw. ihren Antrag zu begründen, erhielt oft keine Sozialleistungen. Diese Erfahrung machten sowohl gering qualifizierte Antragssteller*innen aus Bulgarien als auch hochqualifizierte Fachkräfte aus Frankreich. Viele fühlten sich deswegen diskriminiert.“
Strukturelle Gründe für Benachteiligungen
Die Research Note „’We Treat Everyone the Same’. Formal and Informal Expressions of Institutional Discrimination Against Intra-EU Migrant Citizens in German Job Centres“ erscheint ausschließlich auf Englisch. Für ihre Studie hat Nora Ratzmann insgesamt 103 qualitative Interviews geführt – mehr als die Hälfte davon mit Mitarbeiter*innen von Jobcentern. Ihr Fazit: Häufig steht keine diskriminierende Absicht dahinter, dass EU-Bürger*innen benachteiligt werden. Es sind eher die hohe Arbeitsbelastung und der Zeitmangel in den Jobcentern, die dazu führen, dass deren Mitarbeitende die oft komplexen Fälle vieler EU-Bürger*innen nicht angemessen bearbeiten können.
„In den Jobcentern arbeiten viele engagierte Sachbearbeiter*innen und Arbeitsvermittler*innen, die bemüht sind, die Situation der Schwächsten in unserer Gesellschaft zu verbessern“, sagt Dr. Nora Ratzmann. „Die Rahmenbedingungen, in denen sie arbeiten, können aber zur Diskriminierung von EU-Bürger*innen führen.“
Um mehr Zeit für die Bearbeitung der Anträge zu gewinnen, fordern manche Mitarbeiter*innen von Jobcentern Unterlagen an, die nicht zwingend erforderlich sind. Manchmal fragen sie EU-Bürger*innen nach Dokumenten, die diese rechtlich gesehen gar nicht vorlegen müssen – zum Beispiel Dokumente, die ihren rechtmäßigen Aufenthalt belegen. Auch eine zu enge Auslegung der gesetzlichen Vorgaben und des Ermessensspielraums kann zur Ungleichbehandlung von EU-Bürger*innen führen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Mitarbeiter*innen von Jobcentern darauf bestehen, ausschließlich auf Deutsch zu kommunizieren. Antragssteller*innen, die nicht genügend Deutsch können, sind deshalb im Nachteil. Die Landessprache beherrschen zu müssen, um Sozialleistungen zu erhalten, widerspricht aber dem Prinzip der Gleichbehandlung. Die Bundesagentur für Arbeit hat die Jobcenter deshalb angewiesen, EU-Bürger*innen eine*n Dolmetscher*in oder einen Übersetzungsdienst zur Seite zu stellen.
EU-Bürger*innen brauchen mehr Unterstützung
Um sich im Bürokratiedschungel zurechtzufinden, greifen viele Betroffene auf Unterstützung von Freunden, Familienangehörigen und Bekannten zurück. Diese helfen beim Ausfüllen von Formularen, begleiten sie zu Terminen und dolmetschen bei Gesprächen mit Mitarbeitenden des Jobcenters. Sozialberatungsstellen bieten in der Regel die professionellste Unterstützung. Nicht alle Betroffenen kennen dieses Angebot jedoch.
„Zuwanderer*innen aus EU-Staaten sollten stärker über ihre sozialen Rechte und Pflichten und die Besonderheiten der deutschen Bürokratie informiert werden. Sie brauchen mehr Unterstützung“, sagt Prof. Dr. Sabrina Zajak, die am DeZIM-Institut die Abteilung Konsens und Konflikt leitet. „Mitarbeiter*innen der Jobcenter müssen mehr über die komplexen Rechtsansprüche von EU-Migrant*innen und deren Bedürfnisse als Neuankömmlinge in der deutschen Gesellschaft wissen. Sie brauchen mehr Übung im Umgang mit Diversität und bessere Fremdsprachenkenntnisse. Vor allem aber brauchen sie mehr Zeit, um die Fälle von Antragsteller*innen aus EU-Staaten angemessen prüfen zu können.“
Die DeZIM Research Note #13 „’We Treat Everyone the Same’. Formal and Informal Expressions of Institutional Discrimination Against Intra-EU Migrant Citizens in German Job Centres” wurde von Nora Ratzmann verfasst und ist hier abrufbar.