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Studie: Armut ist Risiko für Demokratie – Indizien für Zunahme der Einkommensungleichheit in der Krise

„Die Einkommen in Deutschland sind heute sehr ungleich verteilt, wenn man die Entwicklung seit Ende der 1990er Jahre vergleicht. Zudem gibt es Indizien dafür, dass die Einkommensungleichheit während der Coronajahre erneut gestiegen ist und 2022 fast auf diesem Höchststand verharrte. Auch die Armutsquote liegt mit 16,7 Prozent 2022 spürbar höher als vor Beginn der Pandemie, gegenüber 2021 ist sie geringfügig gesunken.

Insbesondere dauerhafte Armut (mindestens fünf Jahre in Folge) hat die gesellschaftliche Teilhabe schon vor der jüngsten Teuerungswelle stark eingeschränkt: Dauerhaft Arme müssen etwa deutlich häufiger auf Güter des alltäglichen Lebens wie neue Kleidung oder Schuhe verzichten, sie können seltener angemessen heizen. Und sie machen sich zudem deutlich häufiger Sorgen um ihre Gesundheit und sind mit ihrem Leben unzufriedener.

Auch das Gefühl, anerkannt und wertgeschätzt zu werden und das Vertrauen in demokratische und staatliche Institutionen hängen stark mit dem Einkommen zusammen. Arme empfinden weitaus häufiger als Menschen mit mehr Geld, „dass andere auf mich herabsehen“, wobei das Problem unter Menschen in dauerhafter Armut noch weitaus ausgeprägter ist als bei temporärer Armut: Fast jeder Vierte unter den dauerhaft Armen sagt, von anderen geringgeschätzt zu werden.

Mit materiellen Einschränkungen und dem Gefühl geringer Anerkennung geht bei vielen Betroffenen eine erhebliche Distanz zu zentralen staatlichen und politischen Institutionen einher: Mehr als die Hälfte der Armen hat nur wenig Vertrauen in Parteien und Politikerinnen. Rund ein Drittel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Maße. Zu diesen Ergebnissen kommt der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. (…)

Um gegenzusteuern, heben sie [die Forschenden] mehrere Maßnahmen hervor:

1. Anhebung der Grundsicherung auf ein armutsfestes Niveau: Die Regelsätze der sozialen Grundsicherung müssen nach Analyse der Verteilungsexpert*innen so weit angehoben werden, dass sie Einkommensarmut tatsächlich verhindern. Das sei beim Einstieg ins Bürgergeld nicht passiert. Die von der Bundesregierung angekündigte Kindergrundsicherung setze zwar „ein positives Signal, wenn sie tatsächlich zu einer einfacheren Inanspruchnahme der Leistungen für Familien mit niedrigen Haushaltseinkommen führt. Inwiefern sie aber tatsächlich zur Reduzierung von Armut beitragen kann, hängt auch hier davon ab, ob die Höhe der Leistungen auf ein armutsfestes Niveau angepasst wird.“  

2. Bessere Löhne durch höheren Mindestlohn, Stärkung der Tarifbindung und Qualifizierung: Um Armut trotz Arbeit zu reduzieren, empfehlen Brülle und Spannagel einen Mix aus höherer Entlohnung und einer besseren Erwerbsbeteiligung, gerade von Menschen mit geringen formalen Qualifikationen. Dazu zählen sie eine zügige stärkere Erhöhung des Mindestlohns als die 41 Cent, die die Arbeitgeber in der Mindestlohnkommission für den Jahresbeginn 2024 durchgesetzt haben. Als weiteren wichtigen Ansatz gegen Niedriglöhne nennen sie eine Stärkung der Tarifbindung. Komplementär plädieren sie für deutlich mehr „einzelfallorientierte Weiterqualifikationsmaßnahmen“ und einen weiteren Ausbau der Kinderbetreuung.

3. Reiche und Superreiche stärker an Finanzierung des Gemeinwohls beteiligen: Seit Mitte der 1990er Jahre wurden reiche Haushalte systematisch steuerlich entlastet, analysieren die Forschenden. „Zuletzt war es die Reform der Erbschaftssteuer im Jahr 2016, die es zahlreichen Superreichen ermöglicht, erhebliche Betriebsvermögen zu vererben, ohne dass darauf nennenswert Steuern entfallen.“ Die Lasten, die sich aus den aktuellen Krisen ergeben, müssten aber auch von den „starken Schultern“ mitgetragen werden, und das insbesondere über eine deutlich stärkere steuerliche Beteiligung. Als Ansätze nennen Brülle und Spannagel, den Spitzensteuersatz wieder anzuheben, eine progressive Vermögenssteuer wiedereinzuführen und die Schlupflöcher in der Erbschaftssteuer zu schließen. Dabei müsse es bei der Vermögens- wie auch der Erbschaftssteuer hohe Steuerfreibeträge geben, betonen die Studienautor*innen. „Es geht nicht darum, die Steuern für die Mitte der Gesellschaft zu erhöhen; es sind die Reichen und Reichsten dieser Gesellschaft, die einen größeren Beitrag zu unserem Gemeinwohl leisten müssen.“ Solche Maßnahmen „erhöhen die Legitimitätsbasis unserer Demokratie, indem sie die Lasten der Krisen gerechter verteilen – ein entscheidender Baustein dafür, das Vertrauen in unsere freiheitlich demokratische Grundordnung wieder zu stärken.“

Quelle und mehr: PM des WSI